Zu viel oder zu wenig: Geht es um die Aktivität unserer Nervenbahnen, ist beides schlecht. Chronisch nierenkranke Patienten können oft ein Lied davon singen. Was hilft?

Das Wort nimmt in unserem Sprachgebrauch gro­ßen Raum ein. Beispielsweise wenn uns jemand auf den Nerv geht, wir Nerven wie Drahtseile ha­ben oder einfach nervös sind. Nerven sind für den Menschen wichtig. Jeder Quadratmillimeter des Körpers ist von Nervenzellen, auch Neuronen ge­nannt, durchzogen. Sie steuern unsere Organe und leiten unsere Empfindungen an das Gehirn weiter: Berührungen, Hitze, Kälte – oder den Schmerz. Die Nerven sind unsere inneren Wäch­ter.

„Ohne Nerveninformatio­nen sind wir schutzlos: Dann schneiden wir uns tiefer, stoßen uns härter, haben unsere Koordination nicht mehr“, erläutert Prof. Dr. Peter Mertens, in Mag­deburg Direktor der Uni­versitätsklinik für Nieren- und Hoch­druckkrank­hei­ten, Diabetologie und Endokrinolo­gie sowie Ärzt­licher Leiter des KfH-Nierenzen­trums. „Wenig Nervenaktivität ist katastrophal – viel ist aber auch ein Desaster.“

Die Auslöser von Juckreiz

Wird ein Patient von den Nervenbahnen geplagt, spürt er also zu viel oder zu wenig, dann liegt eine Neuropathie vor – eine Nerv-Krankheit. Je­der weiß, wie sich eine Reizung der Nerven an­fühlt: es juckt oder kribbelt. Im leichtesten Fall ist das auf eine Unverträglichkeit von Kleidung oder Ernährung zurückzuführen. Ein Jucken kann auch eine urämische Ursache haben, dann liegt eine Vergiftung durch harnpflichtige Substanzen im Blut vor, da die Nierenfunktion gestört ist. Ein weiterer Auslöser können Bestandteile von Medi­kamenten sein, die sich ablagern und die Nerven­bahnen reizen.

Der Juckreiz der Haut, Fachbegriff Pruritus, ist eine Malaise, von der laut Studien 25 bis 40 Prozent der Dialysepatienten betroffen sind, mit einer ähnlichen Verteilung bei Hämo- und Peritonealdialyse. Häufig wird er an Beinen, Rücken und Kopf empfunden.

Nicht immer liegt die Ursache auf der Hand. Ne­phrologe Mertens sagt: „Einen Pruritus bei einer Urämie durch fehlende Nierenfunktion kann der Arzt nicht unterscheiden von einem Pruritus auf­grund der Ablagerung von Medikamenten.“ Ob generell eine Neuropathie vorliegt, können Ärzte indes schnell erkennen, etwa anhand einer ver­minderten Schweißbildung. „Bei einer Neuro­pathie ist die Haut an den Füßen in der Regel tro­cken, nicht schwitzend, glänzend, schuppig.“ Nicht immer muß ein Kribbeln in Füßen oder Händen von einer Nerven­schädigung herrühren. „In 25 bis 30 Prozent der Fälle handelt es sich um eine Durchblutungsstörung.“

Die Therapieansätze

Vor allem vier Therapieansätze versprechen bei chronisch nieren­kranken Patienten mit Neuropa­thie Linderung: die Dialyseintensität steigern, ge­wisse Arzneimittel absetzen, die Reizung von Nerven mit einem Medikament unterdrücken so­wie die Behandlung von außen mit rückfettenden Salben.

Mertens erläutert: „Als Erstes ist zu fra­gen: Paßt die Dialysedosis, ist sie ausreichend? Als zweites: Welche Medikamente können abge­setzt werden? Da muß man auch an solche den­ken, von denen der Patient annimmt, er braucht sie unbedingt. Beispielsweise Diuretika, die die Wasseraus­scheidung fördern. Sie scheinen oft für Abla­gerungen in der Haut und nahe Nerven sowie den Pruritus verantwortlich.“ Genauso gibt es Mittel, welche die Reizung der Nerven unterdrü­cken, etwa Pregabalin oder Gabapentin. „Der Arzt muß genau überlegen, wie oft er diese Medika­mente gibt.“

Eine Studie mit mehr als 140.000 Hämodialyse­patienten in den USA hat gezeigt, daß sie oft über­dosiert werden, nach dem Motto viel hilft viel. Aber je höher die Dosis, desto größer die Neben­wirkungen, etwa Einschränkungen der kognitiven Fähigkeiten oder Schwindelattacken.“

Die Studie gibt die Empfehlung, das Medikament nur drei­mal die Woche nach der Dialyse einzunehmen, nicht täglich. Last but not least können rückfet­tende Salben die Hautbe­schwerden lindern. „Das sollte man immer empfehlen. Dialysepatienten haben oft eine trockene Haut“, sagt Mertens.

Der Verlust des Gespürs

Vor einer Therapie sind andere mögliche Fakto­ren auszuschließen, beispielsweise raue Klei­dung, häufiges Waschen oder psychischer Stress. Auch eine Ernährungsanamnese kann Sinn ma­chen, ebenso mehr Bewegung. „Bewegen sich nie­renkranke Patienten, geht es ihnen generell bes­ser. Der Körper antwortet unter Umständen auch anders auf Schmerzreize, wenn er in einem rela­tiv fitten Zustand ist“, sagt Mertens.

Aus Sicht der Patienten sei Pruritus aufgrund einer Überaktivi­tät der Nerven ein wesentliches Thema, unter­streicht der Experte. „Die Lebens­qualität fällt dra­matisch ab. Ich kenne Patienten, die kratzen sich mit einem Schrubber den Rücken auf. Sie können nicht schlafen, sind angespannt, gestresst und insgesamt so getrieben, daß sie nicht selten Selbstmordgedanken hegen.“

Im fortgeschrittenen Stadium der chronischen Niereninsuffizienz und bei Zuckerkrankheit kann es auch zu einer urämischen Polyneuropathie kommen.

Dabei werden die Nervenfasern geschä­digt und es herrscht dann zu wenig Nervenaktivi­tät. Das äußert sich in Gefühlsstörungen – vom Taub­heitsgefühl bis zum Verlust des Gespürs. Die Wirkung auf den Patienten sei eine andere als beim Pruritus, skizziert Mertens: „Die meisten können das als ein Gefühl verarbeiten, das nicht in Ordnung ist, aber es wird als nicht so belästi­gend wahrgenommen.“ Indes: Werden Druck­punkte in den Schuhen nicht mehr registriert, können dort Druckgeschwüre entstehen (diabeti­sches Fußsyndrom; siehe unten).

Ob Juckreiz, Kribbeln, Schmerzen oder Gefühlslo­sigkeit – Neuropathiebeschwerden sind immer ein Fall für den behandelnden Arzt. Er wird Risi­kofaktoren abfragen, einfache Tests durchführen und eine Behandlung vorschlagen, um die Qualen zu lindern und – um beim anfänglichen Sprach­beispiel zu bleiben – die Nerven so gut es geht zu schonen.

Intelligente Sohlen

Prof. Dr. Peter Mertens und sein Team an der Magdeburger Universitätsklinik forschen zur Entwicklung von Druckgeschwüren und vergleichen in einer telemedizinischen Studie Diabetes-Patienten mit urämischer Polyneuropathie. „Bei rechtzeitiger Entlastung der Füße können zwei von drei Geschwüren vermieden werden“, berichtet Mertens. Vor allem die Temperatur gilt als Indikator. Steigt sie an, weist das auf ein entstehendes Geschwür hin.

Die Magdeburger Wissenschaftler haben „kluge“ Einlegesohlen mit Sensoren entwickelt, die bei falscher Druckbelastung und erhöhter Temperatur Alarm schlagen. Die Daten gehen per Bluetooth an das Smartphone und der Patient kann gegensteuern.

aus: KfH aspekte 3-19